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Sonntag, 8. November 2015

Was fehlt, wenn ich verschwunden bin








Was fehlt, wenn ich verschwunden bin, Lilly Lindner
(Fischer, 2015)


"When people don't express themselves, they die one piece at a time."
-Laurie Halse Anderson, Speak

 April ist fort.
Seit Wochen kämpft sie in einer Klinik gegen ihre Magersucht an. Und seit Wochen antwortet sie nicht auf die Briefe, die ihre Schwester Phoebe ihr schreibt.
Wann wird April endlich wieder nach Hause kommen? Warum antwortet sie ihr nicht?
Phoebe hat tausend Fragen. Doch ihre Eltern schweigen hilflos und geben Phoebe keine Möglichkeit, zu begreifen, was ihrer Schwester fehlt. Aber sie versteht, wie unendlich traurig April ist. Und so schreibt sie ihr Briefe. Wort für Wort in die Stille hinein, die April hinterlassen hat.
Quelle: Fischer



 Phoebe, dass ist ein kleiner Irrwisch den man sehr schnell ins Herz schließt. Manchmal wirkt sie vielleicht etwas altklug und belehrend, wie kleine Kinder eben so sein können, aber sie bringt die Tatsachen mit kindlich naiver Weisheit und enervierender Klarheit auf den Punkt.
Es wäre so einfach, die Sache mit dem Zusammenleben, wenn wir nur Zuhören und auf andere mehr Rücksichten würden.
Sicherlich wäre sie Anstrengend um sich zu haben, aber die Fröhlichkeit und reine Lebensfreude die oft aus ihren Zeilen spricht, hilft einem durch die eher langsame erste Hälfte des Buches zu kommen.

 Dies wäre auch mein einzig verbliebener Kritikpunkt am Buch, die erste Hälfte mit Phoebes unbeantworteten Briefen an ihre Schwester ist zu Beginn, dem Thema  zum Trotz getragen von einer solchen Lebendigkeit das man, ja, sich sofort in die kleine Phoebe verliebt. Deren Briefe werden dann aber etwas wiederholend und fordern durchaus schon mal Durchhaltevermögen ein vom Leser. Da wurde mir die Geschichte, muss ich leider zugestehen, eine Zeit lang so Zäh das ich anfing mich an Belanglosigkeiten aufzuhalten, wie der Frage warum eigentlich, wenn die Geschichte in Berlin handelt, jeder, aber wirklich jeder einen klingenden englischen Namen trägt.

 So verfolgen wir über Phoebes Briefe die Geschichte bis zu ihrem Ende und dann in der zweiten Hälfte des Buches starten wir erneut, mit Aprils nicht abgesendeten Antwortbriefen.
Dieser gebrochene Dialog der dadurch entsteht setzt uns gegenüber Phoebe in den Vorteil, die mit ihren Fragen bis zum Schluss allein steht.

 Phoebe hat mich als Charakter angenehm an die Tochter ehemaliger Nachbarn erinnert, welche einem Stundenlang nachlaufen und Löcher in den Bauch fragen konnte, und wenn ihr mal die Fragen ausgingen, dann hat sie eben von vorne begonnen...

 April bringt in ihren Briefen diesen unnachahmlichen kindlichen Wesenszug perfekt auf den Punkt
 Weißt du eigentlich, dass die besten zwei Sekunden in meinem Leben die sind, die du brauchst um in mein Zimmer gestürmt zu kommen und mir fünf Fragen hintereinander zu stellen, nur um anschließend gleich wieder zu verschwinden, weil dir plötzlich eingefallen ist, dass du vergessen hast, Fork seinen Hundeknochen zu geben?


 April, dass ist der Charakter der einem das Herz bricht.
Aus ihren Briefen spricht eine so unverfälschte Liebe zu ihrer kleinen Schwester, und solch eine schmerzhafte Sehnsucht nach dem Leben, man kann nicht anders als mit ihr zu Leiden. Mit jedem Brief von ihr, da möchte man sie einfach nur in die Arme schließen und ihr "Es wird alles gut werden" zuflüstern, gerade so, als könnte man daran glauben.


 Erst in dieser zweiten Hälfte entfaltet das Buch dann seine Stärke so richtig, nimmt einen gefangen und lässt einen von da an und darüber hinaus nicht mehr los.
Die Briefen der beiden Schwestern schreibt Lilly Lindner in einer durch und durch poetischen, lebensnahen Prosa. Sie fängt Wörter ein, setzt sie in einen neuen Kontext, und ordnet dafür unsere rigide deutsche Grammatik auch schon mal dem Rhytmus der Sprache unter
 "Aber man kann dem losen Sinn hinterherrennen und ihn wieder einfangen. Ich denke, wenn man geschickt ist und viele Sinne einfängt, dann hat man das Leben mit Sinn voll."
 Ach, Phoebe.
 Du bist ein Satzzeichen.
 Du setzt Zeichen. Mit deinen Sätzen.
 Lillys Prosa scheint mir in solchen Momenten den Aufruf in sich zu tragen, nicht aufzuhören seine eigene Stimme, seine eigene Sprache zu suchen.
Denn wenn wir aufhören zu Kommunizieren, hören wir irgendwann auch auf zu Leben.


 Aprils Eltern im Buch machen einen erst betroffen, dann wütend, und am Ende fühlt man sich betroffen und wütend auf sich selbst, weil man sich ganz unversehens in ihnen wiederfinden kann je mehr man über ihr Handeln nachdenkt. Aus ihnen spricht Hilflosigkeit das eigene Kind zu verstehen, Unfähigkeit die Tiefe seines Schmerzes zu realisieren, vor allem aber das Unvermögen dem mit elterlicher Liebe zu begegnen.
Aber hätte man an ihrer Statt denn die Stärke, Dinge besser zu handhaben?


 Lilly Lindners Jugendbuch Debüt ist bewegend, beindruckend, es zwingt einen Nachzudenken, es lässt einen wütend und in Tränen aufgelöst zurück.
Es ist eine Aufforderung zuzuhören, auch und gerade dann wenn aufgehört wird zu Reden.
Es ist eine Liebeserklärung an das Leben - es ist für mich das Buch des Jahres.


Herzlichen Dank ans Sas von kopf.kino für das Buch

2 Kommentare:

  1. Was für eine wundervolle Rezension!
    Ich wusste bereits, dass das Buch gut sein soll, aber mit den Textstellen und deinen eigenen Worten dazu hast du mich restlos überzeugt.

    Ganz liebe Grüße Tanja

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    1. Freut mich zu hören, dann hoffe ich dass das Buch genauso zu begeistern vermag.

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